Piste SN November 2020

INTERVIEW | KULTUR PISTE.DE 031 Eric Stehfest hat mit seinem Buch „9 Tage wach“, in dem er seine Crystal Meth-Abha ̈ ngigkeit verarbeitet, Tabus gebrochen, Menschen beru ̈ hrt und einen riesigen Erfolg gefeiert. Nach u ̈ ber 200.000 verkauften Exemplaren und einer Verfilmung mit Jannik Schu ̈ mann, Heike Makatsch und Benno Fu ̈ rmann, legt der Bestseller- autor jetzt nach. Gemeinsam mit sei- ner Ehefrau Edith hat er sein zweites Buch „Rebellen lieben laut“ geschrie- ben. Im Interview verraten die beiden mehr u ̈ ber den Entstehungsprozess des Buchs, was sie bewegt und wie ihre Zukunftspla ̈ ne aussehen. Redaktion: Was möchtet ihr mit eurem Buch bei den Leser*Innen bewegen? Eric: Bewegung, in jeglicher Hin- sicht, ist und bleibt das Gegenteil von Stillstand. Und wenn ich mir unsere politischen und gesellschaft- lichen Strukturen ansehe, habe ich sehr oft das Gefühl, dass wir seit ei- nigen Jahrzehnten stillstehen. Ich persönlich habe mich als Schau- spieler aus der deutschen Filmland- schaft zurückgezogen, weil mir Diversität, vor und hinter der Ka- mera, Kontroverses, Surreales und Radikales in fast allen Drehbüchern fehlen. Eine Entscheidung, die mich zutiefst traurig macht, für mich aber ein notwendiges Opfer ist, wenn ich durch mein Schaffen eine Verände- rung erwirken möchte. Mit meinem neuen Buch möchte ich andere Menschen ermutigen, ebenso darü- ber nachzudenken, welche Opfer sie bringen könnten, damit wir in einer hoffentlich nahen Zukunft bunt und aufgeklärt miteinander leben können. Das Buch beschäftigt sich mit dem Kampf gegen das Ge- fühl der absoluten Einsamkeit auf dieser Welt. Ich wünsche mir, dass sich alle Leserinnen und Leser durch dieses Buch ein Stück un-ein- samer fühlen. Redaktion: Ihr erzählt in eurem Buch sehr offen von eurer Drogen- sucht, dem gestörten Verhältnis zum eigenen Körper, von eurer mo- dernen Auffassung einer Ehe – The- men, die für viele Menschen Tabu sind. Warum ist euch der offene Umgang mit diesen Erfahrungen wichtig und was wollt ihr anderen dadurch auf den Weg geben? Edith: Hätte Eric, damals als ich ihn kennenlernte, geschwiegen und nicht offen seine Geschichte er- zählt, hätte ich keinen Grund ge- habt, meine eigene Selbstzerstörung zu beenden. Ich habe in den letzten Jahren gelernt, dass die eigene Wahrheit und Auf- richtigkeit meinem Gegenüber hel- fen kann, seine Themen zu beleuchten. In den letzten Wochen kamen viele Frauen in Gera zu mir und erzählten, wie sie als Kind missbraucht wurden und danach in eine Abhängigkeit verfielen. Ihr Ver- hältnis zum eigenen Körper ist seit- dem gestört und verwirrt. Wir sprechen dann gemeinsam über Wege die Themen zu bearbeiten. Diesen Mut rechne ich den Frauen hoch an und sie wissen, dass ich sie nicht verurteile, weil ich mit ihnen fühle. Für mich war das Tätowieren das Ehren meines Körpers, welcher nicht nur ein Kind zur Welt brachte, sondern viele Strapazen überlebt hat. Redaktion: Corona, Wirtschafts- krise, Klimawandel – wir durchle- ben aktuell sehr ereignisreiche Zeiten. Ihr habt euch noch vor dem Corona-Ausbruch und dem an- schließenden Lockdown einige Mo- nate lang aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Wie blickt ihr heute, nach dieser intensiven Zeit des Abstandnehmens und der In- trospektion, der Zukunft entgegen? Eric: Mein Leben verläuft bisher immer so, dass ich permanent Werkzeug meiner eigenen Visionen bin – ich sehe mögliche Situationen meiner Zukunft. Die Vision „2020“ entstand durch das Beobachten un- serer Gesellschaft, ihrem Verhalten und deren Wirkung auf mich. Hass, Spaltung und soziale Ungerechtig- keit sind Themen, die täglich prä- sent sind. Wie haben diese Themen bei der „9 Tage wach“-Tour im Jahr 2019 live miterlebt. Die ereignisrei- chen Zeiten hatten somit für uns schon viel eher begonnen. Ich wusste sofort, dass ich nicht mehr weitermachen konnte wie bisher. Deshalb entwickelte ich ein Band- projekt. Ein Künstlerkollektiv, um darüber zu berichten, wie Katastro- phen entstehen und wie man diese aufhalten kann. Das daraus dann pure Realität für uns alle wurde, ist schlichtweg erschreckend gewesen. Auf der anderen Seite waren wir dadurch auch ein Stück weit vorbe- reitet und konnten unser Buch schreiben – ein Wegweiser durch eben diese schwierige Zeit, der sich mit den Fragen beschäftigt, wer wir sein wollen und wie wir zukünftig zusammenleben wollen. Gleichbe- rechtigung, soziale Gerechtigkeit und der Kampf gegen den Kapita- lismus sind für uns zukunftsorien- tierte Aufgaben. Redaktion: Ihr habt vor Kurzem die gemeinsame Band € $OH € $ ge- gründet. Könnt ihr schon mehr ver- raten? Edith: Ursprung der Band ist für mich, Musik in Freiheit zu erschaf- fen. Mit Menschen die ich liebe und schätze. Ich musste schon im letzten Jahr erkennen, das ich als Sängerin für die kommerzielle Musikbranche unpassend bin. Zu laut, zu kritisch. Nach einem großen Tief kam die Entscheidung, es selber zu wagen. Ohne Label, ohne Vorgaben, ohne Regeln. Wie klingt Zukunft? Wie klingen Tränen und welche sozial unangenehmen Themen möchte ich ansprechen? Mit Omega, Ampel (Eric), Hannibal und mir (Lotta Laut) haben sich vier Künstler gefunden, die für neue Klänge brennen. Da geht es von modernen Balladen, über Rap bis zu 80s Synth-Pop und Techno schreiben – wir nennen unseren Sound Indus- trial Hip Hop. IM INTERVIEW EDITH & ERIC STEHFEST

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